Entwicklungstrauma

Die Symptome von Entwicklungstrauma sind bei den meisten Menschen nicht so deutlich wahrnehmbar wie die von Schocktrauma. Sie können sich vielschichtig und subtil zeigen, so dass wir sie oft gar nicht erkennen und zuordnen können. Da Entwicklungstrauma sich auf längere Zeitdauer in unserer frühen Kindheit entwickelt – worauf der Begriff hinweist – scheint es mit uns verwoben zu sein, zu unserer Persönlichkeit zu gehören, wir denken, wir sind so. Oftmals verstehen wir diese langjährigen »Begleiter« als zu uns gehörig, womöglich als unsere Charakterschwäche, unsere persönliche Schwäche, die wir oft innerlich selbst verleugnen oder abwerten.

Ich möchte mich zunächst den Ursachen nähern, damit ihr ein Verständnis von der Entstehung von Entwicklungstrauma bekommen könnt.

Wir werden als Babys mit einem noch nicht vollständig ausgereiften Nervensystem geboren. Daher sind wir essentiell darauf angewiesen, dass unser Nervensystem durch unsere Eltern oder die ganz nahen Pflegepersonen reguliert wird. Regulieren bedeutet, dass wir beruhigt werden, wenn Aktivität da ist, wenn Babys zum Beispiel weinen oder erschrocken sind. Aber Regulation bedeutet auch, dass wir angeregt werden und dass zu uns Kontakt aufgenommen wird. Das heißt, dass wir in körperlicher Nähe mit diesen erwachsenen Menschen sind, dass wir hochgenommen werden, dass wir getragen werden, dass wir uns in unserem Sein gefühlt, gesehen, begleitet, versorgt und beantwortet fühlen und erleben, dass unsere Bedürfnisse wahrgenommen und erfüllt werden. Dadurch werden die primären Bedürfnisse nach Sicherheit und Bindung erfüllt und gleichzeitig damit verwoben reguliert dieser wohlwollende, zugewandte und sichere, zuverlässige Körperkontakt das Nervensystem des Babys, denn das kann es definitiv noch nicht allein tun. Und das bedeutet schließlich Sicherheit für das Kind. Die Beunruhigung wird beruhigt und das läuft über das autonome Nervensystem.

Ein Beispiel: In den vergangenen Jahrzehnten wurde und wird leider immer noch gelegentlich von Eltern das Vorgehen praktiziert, das Baby z.B. nachts ins Nebenzimmer zu bringen, damit es »in Ruhe« schlafen kann oder die Eltern in Ruhe sein können. Manchmal steckt die irrige und in der Konsequenz ahnungslose Annahme dahinter, Grenzen setzen zu müssen, um das Baby von Beginn an nicht zu verzärteln, zu verwöhnen, damit es uns schließlich nicht auf der Nase herumtanzt.
Ein drastisches Konzept ist die Annahme, die noch durch manche elterlichen Köpfe geistert, dass man das Baby sogar schreien lassen muss, um dadurch die Lunge zu stärken. Das war bis weit in die 70er und auch noch 80er Jahre hinein ein verbreitetes Konzept und hat immer noch einen Nachhall im Bewusstsein vieler Menschen. Wenn Eltern sich auf diese Weise verhalten, bekommen sie von ihrer Umgebung häufig mehr Anerkennung als wenn sie das Kind zu sich nehmen und beruhigen.

Jede Form von Vernachlässigung der Bedürfnisse, wie z.B. das Baby schreien zu lassen oder auch mit dem Baby nicht gut mitschwingen zu können, es nicht wirklich in seinen Bedürfnissen wahrzunehmen, trägt zur Überaktivierung des Nervensystems beim Baby bei. Das bedeutet, dass der aktive Strang des autonomen Nervensystems, der Sympathikus, beim angstvollen Schreien, auf das niemand reagiert, hoch aktiviert ist. In der erlebten Überwältigung und Todesangst, die das Baby tatsächlich erfasst, schießt der jetzt hyperaktive Teil des Nervensystems aus dem Toleranzbereich heraus. Das Baby schreit sich oft völlig verausgabt in den Schlaf, aber es liegt keine Beruhigung darin, sondern Erschöpfung und die Resignation, die aus der Erfahrung rührt, mit dem Bedürfnis nach Kontakt und der sich schließlich einstellenden Angst alleingelassen worden zu sein. Und das hinterlässt in Summe Spuren im autonomen Nervensystem.

Dieses Beispiel lässt sich auf viele andere Situationen in der frühen Kindheit übertragen. Alleingelassen zu werden, zu wenig Empathie und Zuwendung zu erhalten, Bedürfnisse nicht erfüllt zu bekommen, sie schließlich nicht einmal mehr benennen zu können. Da gibt es viele Momente, die dazu führen, in die Überforderung zu geraten: Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte, die allein schon Ängste auslösen können und zusätzlich möglicherweise begleitet werden mit Sätzen wie: »das ist doch gar nicht so schlimm«, »das geht doch ganz schnell vorbei«, »das schaffst du schon, bis doch schon ein großer Junge, ein großes Mädchen« oder sogar »stell dich nicht so an«, wenn es den Eltern unangenehm ist, dass das Kind sich wehrt oder weglaufen möchte. Die Ängste des Kindes werden nicht ernst genommen, übergangen und das Kind wird damit allein gelassen.

Ein Nichtbeantworten der emotionalen Bedürfnisse des Kindes, Beschämung, Ausgrenzung, all die vielen Dinge der erlebten inneren Not und des Schmerzes, die viele von uns kennen.
Und schließlich kann ein Entwicklungstrauma durch überforderte und / oder emotional abwesende, wenig empathische, mit sich selbst beschäftigte Eltern, durch eine depressive Mutter, einen aggressiven Vater oder umgekehrt entstehen. Und es geht nicht um singuläre Momente, sondern wir können in Betracht ziehen, dass Eltern auch ihre eigenen Vernachlässigungsmuster aufgrund von Traumatisierung haben, da müssen wir nur ein paar Jahrzehnte zurückdenken, welche Ereignisse Trauma begünstigen. Dadurch ist Einfühlung in die eigenen Kinder und Sicherheit geben eingeschränkt und das ist dann eben in Summe zu betrachten über die ganze Zeit der Kindheit.

Hinweise auf ein Entwicklungstrauma können zum Beispiel Depressionen, häufig erlebter Ärger, Wutanfälle, Konzentrationsprobleme sein. Viel Denken oder sich in Wissen und analytischen Strukturen verfangen. Sich innerlich nicht verbunden fühlen, mit sich selbst nicht gut in fühlendem Kontakt sein noch mit unserer Umgebung, unseren Mitmenschen, denn durch das überwältigende Erleben damals ist die Verbindung unterbrochen. Eine tiefliegende und meist verborgene Scham darüber, so zu sein, wie man ist, daran knüpft sich ein Gefühl der Wertlosigkeit an. Wenig Vertrauen in uns selbst und ins Leben haben. Schnelles in Ärger oder Wut geraten; Ängste, Gefühle von Überforderung, Hilflosigkeit, Ohnmacht, des Nicht-dazu-gehörens, des Alleinseins oder der Einsamkeit. Bedürfnisse nicht auszusprechen, das diffuse Gefühl zu haben, kein Recht dazu zu haben. In Folge entsteht dann z.B. zuviel und zulanges Arbeiten, sich ausnutzen lassen, weil keine deutlichen Grenzen genannt werden, Kontrollbedürfnisse, Perfektionsdrang, verstärkte Anstrengungen, um alles entsprechend des eigenen (hohen) und/oder äußeren Anspruchs zu erledigen. Oder genau das Gegenteil, nämlich Vermeidung, Aufschieben von Aufgaben und Terminen. Sich abgelehnt fühlen, das Gefühl haben, so wie ich bin, bin ich nicht willkommen, gut genug, richtig. Persönlichnehmen, Rückzugstendenzen. Überzogende Ansprüche an sich und / oder andere, ein verzerrtes Selbstbild und Selbstwahrnehmung.

Die Bandbreite der Verhaltensweisen im Heute ist groß, um die alten Erfahrungen von Angst, Traurigkeit, Hilflosigkeit, Überwältigung, Entwurzelung, nicht-dazu-gehören, nicht-willkommen-sein vom Bewusstsein wegzuhalten, um es nicht fühlen zu müssen. Meist wissen wir nicht einmal, was genau wir wegdrücken und im Unbewussten lassen. Aber es lohnt sich, das zu erforschen, um ein freieres Gestalten des Lebens zu ermöglichen, mehr Lebensfreude, innere Zugehörigkeit, Kontakt, Stimmigkeit, Zufriedenheit zu erobern.

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